Calenberger Autorenkreis

   






Unser Gründungsmitglied Friedrich Pape ist am 31.1.2024 im Alter von 90 Jahren leider verstorben.

Friedrich Pape lebt in Linderte / Ronnenberg und ist Agraringenieur im Unruhestand. Zusammen mit Wilhelm Stenzel gründete er vor mehr als 20 Jahren den „Freien Autorenkreis Calenberg“. Bereits in der Zeit vor seinem Abitur schrieb er Gedichte. Sein heutiger Schaffensschwerpunkt liegt in der erzählenden Prosa. Neben der eigenen Autorentätigkeit widmet er sich seit vielen Jahren auch der Erarbeitung von Vorträgen zu großen Dichtern der Weltliteratur. Aktuell hält er u. a. Vorträge über Georg Heym, Georg Trakl, Ernst Jünger und Hermann Hesse.


Selbstjustiz

Hermann war ein fleißiger Arbeiter mit schlichtem Verstand. Der altersweise Hauptschulleh­rer, der ihn von der ersten Klasse an begleitet hatte und ihn mochte, bezeichnete ihn einmal verzweifelt als unterbelichtet, bemühte sich dennoch, ihm ein Minimum an Allgemeinbil­dung beizubringen. Als Hermann erleichtert der Schule entronnen war, stellte ihn der Müllentsorger „Fortmitschaden" ein. Er hatte das Glück, einer Gruppe zugeteilt zu werden, die jene praktischen Wertstoffsäcke transportierte, in denen sich vielgestaltene, farbige, doch federleichte Kunststoffe befanden: Joghurtbecher, Milchtüten, Fast-food-Behälter, etc. Er liebte seinen Beruf. Straße für Straße abzufahren, mit den Bewohnern über den Zaun hinweg flotte Sprüche zu wechseln, sich hier und da ein Bier spendieren zu lassen, gelegent­lich einer rassigen Frau hinterher zu pfeifen, das war ganz sein Ding. Wem war schon ver­gönnt, im Landkreis sämtliche Straßen abzufahren, hübsche Häuser, schöne Gärten, anhei­melnde Wälder zu sehen, ohne ein Ticket lösen zu müssen.

Fortschrittliche Städteplaner mochten Durchgangsstraßen in Wohngebieten nicht. Sie schätzten verkehrsberuhigte Zonen, besonders aber schmale Sackgassen, und setzten sie durch, wo immer es möglich war. In ein vertracktes System solcher Zuwegungen gerieten die Müllwerker in Trautmannsdorf. Auf dem Heinrich-Böll-Weg standen zwischen den Häusern Nr. 17 und Nr. 16 zwei protzige Rover einander direkt gegenüber. Nur äußerst geschickte Fahrer nicht zu breiter Wagen der unteren Mittelklasse verstanden es, sich hier hindurch zu winden. Für Müllfahrzeuge endete die Fahrt an dieser Barriere. Hermann musste an die fünf­zig Säcke von den am Ende der Sackgasse gelegenen Häusern über mehr als hundert Meter heranschleppen. Die Besatzungen der Wagen, die den schweren Restmüll zu entsorgen hat­ten, waren besonders erbost. Ihr Chef hatte ein Einsehen und beantragte bei der Stadt ein Halteverbot für jeweils eine Seite solcher Straßen. Die Verwaltung reagierte hinhaltend; man müsse erst die Bürger befragen und dann entsprechende Ratsbeschlüsse abwarten. Doch vernünftige Entscheidungen blieben aus. Die Müllwerker gingen daraufhin von Haus zu Haus, verteilten Handzettel und baten um Verständnis für ihre Lage. Die Anwohner gaben sich zu­gänglich, versprachen Besserung. Doch es änderte sich nichts. Weiter mussten Mülllasten geschleppt werden; das jeweilige Team verlor in den Sackgassen viel Zeit, die ihm nicht ver­gütet wurde. Der Ärger wuchs.

Alle dickfelligen Anwohner der Böll-Gasse erlebten eines Morgens eine böse Überraschung: Die Außenspiegel der hinderlichsten Fahrzeuge lagen zertrümmert auf dem Asphalt. Bald gerieten die Müllwerker in Verdacht, weil ihr Appell an den guten Willen der Fahrzeughalter noch nicht vergessen war. Die Polizei beauftragte einen ihrer psychologisch geschulten Be­amten mit der Untersuchung, der jeden Mitarbeiter des Entsorgers streng, aber ohne Erfolg verhörte. Die meisten hatten ein Alibi und waren empört über die ungerechtfertigten An­schuldigungen.

Hermann kam als potentieller Täter ohnehin nicht in Frage. Er besaß kein Auto und wohnte in einem Nest, das dreißig Kilometer von Trautmannsdorf entfernt lag. Er wurde als gutmü­tiger und hilfsbereiter Kollege geschätzt, dem leider einige Windungen im Hirn fehlten. In seiner sanften Seele konnte keine kriminelle Energie schlummern.

Aber keinem Kollegen war bekannt, dass Hermann wenig Schlaf brauchte und sich von frü­hester Jugend an gern nachts in der Umgebung herumtrieb. Er besaß ein solides Tourenrad und schaffte, wenn der Mond schien und er gut aufgelegt war, bis zur Morgendämmerung mühelos an die einhundertzwanzig Kilometer.


Zwischen den Stühlen

Die Sträflinge hatten bei klirrender Kälte Bäume gefällt, die der Trasse eines geplanten Ka­nals weichen mussten. Harte Arbeit und Unterernährung führten dazu, dass der Tod in den Baracken reiche Ernte hielt. Die meisten Häftlinge waren Beamte oder Offiziere gewesen, die des Verrats verdächtig und in gerichtlichen Schnellverfahren abgeurteilt worden waren. Am schlechtesten war jener Deutsche dran, dem das sibirische Klima und dazu noch die Ruhr zusetzten. Er würde vermutlich nicht überleben. Ganz gegen die sonstige brutale Praxis kam eines Tages die Order des Kommandanten, den Kranken von der Plackerei im Forst zu be­freien. Er erholte sich erstaunlich schnell. Wie erklärte sich die Sonderbehandlung? Bekam der Kranke tagsüber, wenn die meisten im Forst arbeiteten, eine bessere Ernährung als alle anderen? Beharrlich setzten nun die in Ungnade gefallenen Staatsdiener dem Ausländer zu, der ihnen bisher wenig aufgefallen war. Sie wollten wissen, warum er verbannt wurde und fürchteten, er wäre ein von der Polizei bezahlter Spitzel, der sie aushorchen sollte. Abend für Abend hatte er sich ächzend auf seinem harten Lager gewälzt und geschwiegen. Als die Ka­meraden längst enttäuscht von ihm abgelassen hatten, wurde er plötzlich gesprächig. Die Sonne war versunken und kalte Finsternis drang in die zugige Baracke, als er mit heiserer Stimme fragte, ob wohl jemand bereit sei, ihm zuzuhören, selbst wenn sein schlechtes Rus­sisch die Verständigung erschweren könnte. Plötzlich waren alle hellwach. Zögernd begann er:

„In Weimar, im kulturellen Zentrum Deutschlands, bin ich aufgewachsen, ging dort zur Schu­le und habe im weltoffenen Jena studiert. Meine Bildung verdanke ich einem Onkel, dem Literaturkritiker und Gymnasialdirektor Johann Musäus, der sich sehr um mich gekümmert hat, denn mein Vater, der dem Herzogtum als Legationsrat diente, war kurz nach meiner Geburt gestorben. Ich habe immer und überall klar meine politische Gesinnung vertreten, und dennoch hat man mich schon als Student für intrigant und verlogen gehalten. Nach dem Jurastudium eröffnete ich 1780 eine Anwaltskanzlei, was mir nur wenig Befriedigung brach­te. Als mir mein Freund Johann v. Görtz, der als Prinzenerzieher am Weimarer Hof wirkte, das Amt eines Privatsekretärs beim Gouverneur von St. Petersburg verschaffte, ging es un­versehens aufwärts. Ich verstand es, mich beliebt zu machen. Mein Ansehen wuchs mit jeder Komödie, die ich herausbrachte, denn ich vermochte das gebildete Publikum geistreich zu unterhalten. Wie überall in Europa, wurden meine Bühnenstücke auch in Russland begeis­tert aufgenommen. Jedem ehrenwerten Menschen bin ich stets offen und ohne Winkelzüge begegnet. Woran lag es nur, dass ich auch in Russland bald als doppelzüngig und undurch­schaubar galt? Vermutlich machte mich meine Neigung zu diplomatischen Formulierungen verdächtig?

Nachdem ich die Sympathie eines baltischen Generals und das Herz seiner Tochter gewon­nen hatte, wurde ich auf Betreiben meines Schwiegervaters geadelt und verkehrte in Reval, wo ich mich mit der strahlend schönen Olga niederließ, ausschließlich mit den Tonangeben­den in Justiz und Verwaltung. Durch Fürsprache von höchster Stelle wurde ich 1785 Präsi­dent des Magistrats im Verwaltungsbezirk Estland. Zunächst hatte ich es genossen, Macht auszuüben; doch bald langweilte mich die Verwaltungsarbeit, die mir zu wenig Zeit für die Musen ließ. Nach kurzer, glücklicher Ehe erkrankte meine geliebte Frau an Typhus und starb. Der Schock saß tief; ich hatte sehr an ihr gehangen. In der Nähe von Reval erwarb ich ein heruntergekommenes, kleines Gut, zog mich aus der Verwaltung zurück und widmete mich nur noch meiner literarischen Arbeit. Auf über einhundert Theaterstücke hatte ich es bis dahin gebracht. 1798 wurde mir die Intendanz des Wiener Hoftheaters angeboten. Ich sah darin die große Chance meines Dichterlebens. Außerdem lockte der Glanz der Habsburger Metropole. Doch lange hielt es mich nicht in dem ersehnten Amt. Hochbegabte Schauspie­ler, die von ihrer Bedeutung überaus überzeugt waren und jedem Regisseur das Leben schwer machten, zermürbten mich durch ständige Renitenz und Besserwisserei. Enttäuscht ging ich heim nach Weimar, um dort die Aufführung meiner Stücke zu fördern. Der Theater­direktor Goethe kam mir sehr entgegen, denn das Publikum liebte meine Dramen, das Thea­ter prosperierte. Der mächtige Geheimrat hatte sich mit den heraufkommenden Romanti­kern angefreundet, - jedenfalls vorübergehend und mit nur einigen von ihnen wie den Ge­brüdern Schlegel, Tieck und Schelling. Trotz meiner Erfolge bezeichnete der Günstling des Herzogs meine Stücke als seicht und oberflächlich. Er begegnete mir mit aller Höflichkeit, aber kalt und verachtungsvoll. Ich bin stets ein Anhänger der habsburgischen Ordnung im Herzen Europas gewesen, sah im Adel das Gerüst der Gesellschaft und konnte dem bei den Romantikern aufkommenden Hang zum eigenbrötlerischen Deutschtum nichts abgewinnen. Völkerumfassende Dynastien beherrschten Europa. Wer waren wir Deutschen schon? Ein heillos zerrissener Flickenteppich von Zwergstaaten. Meine in verschiedenen Blättern veröf­fentlichten Polemiken gegen die Gefühlsduseleien der Romantiker führten dazu, dass ich auf offener Straße angepöbelt wurde. Auch vor Morddrohungen schreckten junge Fanatiker nicht zurück. Man verdächtigte mich sogar, ein Spitzel des Zaren zu sein. Dabei hatte ich niemals meine Überzeugung verraten. Freunde und Gegner wussten, wie sehr ich für den Erhalt der bestehenden Herrschaftsverhältnisse eintrat. Sollte ich dem heraufkommenden Trend nachgeben und nun mit den Wölfen heulen? Da setzte ich mich lieber bewusst zwi­schen alle Stühle. Enttäuscht beschloss ich 1800, nach Russland zurückzugehen, das mir zur zweiten Heimat geworden war. An der Grenze wurde ich verhaftet, weil ich nun in dem Land, dem ich lange loyal gedient hatte, als preußischer Spitzel angesehen wurde. Man gab mir keine Gelegenheit, mich vor Gericht zu verteidigen. Nun bin ich hier."

Was faselte er da? Der Mann hatte eine lebhafte Phantasie. Dass er Theaterdichter sei, woll­te man ihm deshalb gern glauben. Dieser Wirrkopf wäre bei so schwachen Sprachkenntnis- sen ein großes Licht in der russischen Verwaltung gewesen? Mit dem legendären Goethe hätte er verkehrt? Das war doch alles erfunden. Ein abgehalfterter Generalstabsoffizier rief empört: „Hör mit der Märchenstunde auf!" Gelächter erscholl. Der Gefangene verkroch sich unter seiner fadenscheinigen, löcherigen Decke und schwieg.

Am nächsten Morgen breitete sich im Lager Unruhe aus. Befehle erschallten, Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen. Offenbar suchte man jemanden. Schließlich öffnete sich auch die Tür zu ihrem Quartier abrupt. Einige hochdekorierte Offiziere traten ein. „Wir suchen den Präsidenten August von Kotzebue." Der hagere Häftling erhob sich hustend und gab sich zu erkennen. Ein beleibter, stiernackiger General trat vor, klemmte ein Monokel ins Auge und las nuschelnd von einem zerknitterten Blatt ab: „Der ehemalige Magistratspräsident Estlands, Herr von Kotzebue, wurde vom Zaren angesichts seiner Verdienste um die russi­sche Nation begnadigt. Er wird in St. Petersburg erwartet, wo ihm der Zar eine Audienz ge­währen wird."

Ein erfreulicher Ausgang? Doch Verfechtern der Menschenrechte blieb unverständlich, dass ein Mann, der Demütigung und böse Unterdrückung erleben musste und den polizeiliche Willkür fast vernichtet hätte, sich vom Herrscher aller Reußen für erlittene Unbill mit einem baltischen Landgut, auf dem 600 Leibeigene geschunden wurden, ohne Skrupel abfinden ließ.


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