Dieses eine Lied - 22.6.25 Ihr habt ja so recht Mir aber bleibt heute | Ich lieg unter Bäumen Also sing ich erst leise | Nun singe ich lauter Dann sing ich noch lauter |
Ahnung
Da war ein Blick, ein Wimpernschlag, Sekunden nur Und beider Augen fanden Halt, weil niemand fragte,
| Montagmorgen Schlafbeere im Haar |
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Elbsand
Ich stehe am Flussufer und blinzele in die Nachmittagssonne. Langsam strömt das Wasser Richtung Mündung. Graubraun der Sand, in den meine nackten Füße eingesunken sind. Dass er so dunkel ist, hatte ich vergessen. Am fernen gegenüberliegenden Ufer steigt Rauch auf, macht die Luft trübe und das Sonnenlicht fahl. Ein riesiges Containerschiff zieht, aus dem Hafen kommend, flussabwärts.
Als der Sand noch weiß war und das Sonnenlicht das Wasser glitzern ließ, fuhren kleine Schiffe mit Segeln auf dem Fluss. Ich erinnere mich genau, auch wenn es mehr als 70 Jahre her ist. Der Himmel war blau, die Hecken und Büsche am Strand von satten Grün und die Steine so honigfarben, dass man gern hineinbeißen wollte. Und der Sand war weiß und lud mich ein.
Ich wende mich zur Steintreppe, deren Stufen hinauf zum Promenadenweg führen. Dort könnte es sitzen, das kleine Mädchen, das ich einmal war. Ich denke an einen Sommertag, den ersten, an den ich mich erinnere. Ich mache ein paar Schritte auf das Gebüsch zu. Das Kind sitzt dort drinnen, ich weiß es. Ich bücke mich, schiebe die Zweige auseinander, krieche zu ihr. Ich setze mich neben sie, atme ihre Luft. Ich bin das Kind.
Ich luge durch die Blätter des Gebüsches nach draußen, schaue zum Wasser, das glitzert. Licht blendet mich. Meine Mutter sagt, das sei die Sonne. Die Sonne schickt ihre Strahlen auf die Erde herab und wärmt auch mich in meiner grünen Höhle. Hier ist es gemütlich. Ich sitze mit ausgestreckten nackten Beinen da. Ich streiche mit meinen kleinen Fingern darüber, dass es kitzelt. Meine Füße sind eingepackt, eingepackt in weiße Strümpfe und braunen Schnürschuhe. Ich möchte mit meinen Füßen laufen, zu meiner Mutter, die dort hinten auf der Decke sitzt. Ich ziehe mich an einem Ast nach oben und stehe plötzlich. Ich schaue zum glitzernden Wasser, das meine Mutter Elbe nennt. „Wir gehen an die Elbe“, sagt sie, bevor sie mich in die Karre setzt. Das Wasser der Elbe schwappt und gurgelt und an seinem Ufer liegt der weiße Sand. Ich liebe den Sand, möchte jetzt zu ihm laufen. Aber das ist nicht einfach. Meine Füße stapfen und versuchen Halt auf dem unebenen Boden zu finden.
In der Ferne sehe ich meine große Schwester. Sie läuft mit einem Eimer zum Ufer, füllt ihn mit Wasser und rennt zu unserer Mutter und zur Decke. Sie kippt das Wasser neben die Decke. Die Mutter springt auf und schimpft. Sie zieht die Decke zur Seite. Meine Schwester lacht und rennt mit dem leeren Eimer zum Wasser zurück.Als der Eimer wieder voll ist läuft sie wieder los. Unsere Mutter hebt den Zeigefinger und droht. Meine Schwester setzt sich auf halber Strecke und füllt mit der Schaufel Sand in den Eimer. Sie mischt sich Baggermatsch. Damit beschmiert sie sich dann Arme und Beine. Sie mag Baggermatsch. Ich mag den Sand lieber ohne Wasser, weich, trocken und rieselig.
Meine Mutter winkt mir zu und ruft: „Komm mal her, dann ziehe ich dir die Schuhe aus.“
Das will ich! Aber es scheint, als sei meine Mutter auf einmal noch weiter weg als eben. Wenn sie doch zu mir käme, dann könnte ich mich an ihrem gelben Kleid festhalten. Ich warte, aber das gelbe Kleid kommt nicht. Ich muss selber los. Ich laufe, sinke ein, wackele hin und her, aber ich falle nicht. Als ich fast bei ihr bin, steht sie auf, streckt die Hände nach mir aus. Ich renne in ihre Arme, wir drehen uns. Dann steht sie und lacht. Ich schnuppere an ihrem Hals. Er riecht heute wieder gut, nach der Creme aus der grünen Flasche. Ich schnuppere gerne am Hals meiner Mutter. Sie trägt auch die Kette mit dem Honigstein. Er leuchtet im Sonnenlicht, dass ich am liebsten ein Stück davon abbeißen möchte. Meine Mutter setzt mich auf die Decke und kniet sich neben mich. Sie löst die Schuhbänder und zieht mir Schuh und Strümpfe aus. Sie nimmt meine Füße in ihre großen Hände und reibt sie. Ganz dicht kniet sie vor mir und riecht gut.
„So, dann mal los“, sagt sie und hebt den Zeigefinder, „aber keinen Sand essen! Sand essen ist bäh!“
Ich aber will nun endlich laufen, will dorthin, wo der Sand gestern so wunderschön weich war. Sanft schmiegen sich die Körnchen zwischen meine Zehen. Ich laufe, nein, ich renne, fast fliege ich. Ich juchze, hebe die Arme und werfe mich in den Sand. Ich liebe es, mich hineinzuwerfen. Ich kugele mich umher, wälze mich, bis ich endlich sitze.
Dann schaue ich hinaus auf das Glitzerwasser, wie die winzigen Schiffchen aneinander vorbei ziehen, von hier nach dort und von dort nach hier. Wohin, weiß ich nicht. Manchmal tutet eins leise.
Und um mich herum liegt der weiße Sand, weich und trocken. Meine Hände fühlen ihn. Sie greifen hinein, schließen und heben sich. Lautlos rieseln die Körnchen durch meine Finger, regnen auf meine nackten Beine und Füße herab. Zwischendurch gehen meine Hände auch zum Mund und stecken den Sand hinein.
Er schmeckt so wie gestern, warm, weich und krümelig, knirscht wunderbar zwischen den Zähnen. Auch das liebe ich. Ich probiere eine Hand voll und noch eine. Vor mir fließt das Wasser der Elbe und in mir knirscht herrlich der Sand.
„Du sollst keinen Sand essen!“ Das ist die Stimme meiner Mutter. Ich soll keinen Sand essen, das sagt sie jedes Mal, wenn wir hier sind. „Spuck ihn sofort aus!“, ruft sie jetzt. Ihre Stimme klingt hoch und schrill. Aber warum soll ich ihn ausspucken? Er schmeckt doch so gut! Meine Hände greifen zu und schieben noch eine Ladung in den Mund. „Lass das! Der Sand schmeckt nicht! Bäh!“ Ich höre zwar ihre Stimme, aber die Worte haben keine Bedeutung. Der Sand schmeckt herrlich und knirscht wunderbar im ganzen Kopf. Ich greife erneut zu, kaue und schiebe die Körnchen mit der Zunge hin und her, eine kleine wunderbare Weile lang.
„Jetzt ist aber Schluss!“ Meine Mutter steht plötzlich dicht neben mir und verdunkelt alles. Aus ihrem Mund kommen Wörter, die nicht schön klingen. Sie bückt sich und kommt mit ihrer großen Hand auf mein Gesicht zu. Sie steckt ihren dicksten Finger in meinen kleinen Mund und popelt – „Igittigitt!“ - den Sand heraus. Ich wehre mich, schmeiße mich auf den Rücken, wälze mich im Sand. Und dann beiße ich in ihren dicken Finger.
„Aua!“, ruft sie und der gebissene Finger und die anderen klatschen hart auf meinen Po. „Aua!“. Das Muttergesicht sieht jetzt nicht mehr hübsch aus und sie riecht auch nicht mehr gut. Ich schreie. Klatsch, kriege ich noch eins auf den Po! Genau wie gestern. Jedes Mal kriege ich eins auf den Po. Aber es macht mir nichts aus. Ich schreie nur, weil es weh tut. Da packt sie mich, klemmt mich unter ihren Arm, dass mein Bauch eingequetscht wird und mein Schreien erstickt. Sie geht mit mir zur Decke und setzt mich hart darauf ab, zerrt die Strümpfe und Schuhe an meine Füße. Ich schreie weiter und schaue sehnsüchtig zu meinem Sand, der dort hinten auf mich wartet! Mein schöner Sand! Meine Mutter sagt plötzlich auch laute Wörter zu meiner vollgematschten Schwester: „Pack die Sachen ein! Wir gehen!“ Da guckt meine Schwester mich böse an und boxt mir in den Bauch, dass ich umkippe. Nun kriegt auch sie eins auf den Po. Sie schreit. Jetzt schreien wir beide. Unsere Mutter stöhnt. „Morgen bleiben wir zu Hause!“ Dann schüttelt sie die Decke aus. Sandkörnchen fliegen! Wie schön das aussieht! Meine Mutter klemmt mich wieder unter ihren harten Arm und trägt mich zur Steintreppe.
Siebzig Jahre später stehe ich am Ufer, die Sonne im Rücken und schaue hinter den dreien her. Dort hinten steht die Kinderkarre, in die die Frau das kleine Mädchen gleich hineinsetzen und nach Hause schieben wird. Im Moment aber strampelt es noch, eingeklemmt unter einem großen, harten Arm. Es strampelt so lange, bis sein Kopf nach unten hängt und es sehen kann, wie der schöne weiße Sand um die Mutterbeine tanzt. Es lacht und winkt zu mir hinüber. Ich winke zurück. Wir wissen beide, dass morgen ein neuer Tag ist. Wir wissen beide, dass dann alles Schlimme von heute vergessen sein wird und dass die Mutter wieder sagen wird: „Kommt, Wir gehen an die Elbe!“
Und dann werden wir wieder im trockenen weißen Sand sitzen, ihn mit unseren kleinen Händen greifen und genussvoll in den Mund schieben!
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